Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Philosoph John Rawls eine Theorie der Gerechtigkeit, in welcher er sich mit Grundprinzipien auseinandergesetzt hat, auf welchen ein gerechter Staat aufgebaut sein sollte. Innerhalb seiner Theorien findet sich ein Gedankenexperiment zu einer Form von Urzustand der Staatsgründung. Gerechte Prinzipien werden in diesem über einen „Schleier des Nichtwissens“ gefunden. Das bedeutet, dass diejenigen, die über die Prinzipien des zu schaffenden Staates entscheiden, nicht wissen, welche Rolle sie innerhalb desselbigen haben werden. Man weiß also weder welche finanziellen Mittel, welches Geschlecht, welche Hautfarbe usw. man hat. Man wüsste demnach auch nicht, ob man Mutter ist (oder im weiteren Sinne mit Care-Arbeit zu tun hat). Grundsätzlich eröffnen sich über dieses Gedankenexperiment ganz wunderbare Überlegungen und Fragen. Bei genauerem Hinsehen allerdings stellt sich die Frage, ob man den „Schleier des Nichtwissens“ nicht mit Wissen zu den einzelnen Rollen und Figuren und den mit ihnen einhergehenden Lebensrealitäten unterfüttern sollte. Ja, es erscheint geradezu notwendig das zu tun, bevor man in das Experiment wirklich fundiert einsteigen kann. Insbesondere, wenn es sich um Rollen/ Figuren handelt, deren Lebensrealitäten bisher mit fundamental wenig Leidenschaft in den Blick genommen (und gehört) wurden.
Man wird als Mutter (in der Freien Darstellenden Kunst des globalen Westens) weder gesehen, noch gedacht oder gehört, geschweige denn geschätzt oder gar als Pool von Wissen angesehen. Hierdurch entsteht nicht nur Diskriminierung, sondern auch ein stillschweigendes Einvernehmen, das in diesen Menschen befindliche Wissen verloren gehen zu lassen. Doch kann es sich die Welt erlauben, Sicht- und Handlungsweisen des Miteinander zu ignorieren? Kann es sich die Kunst auf Dauer erlauben, weiterhin unausgesprochen aber mit großer Vehemenz den einzelnen Künstler fernab jeder Lebensrealität (oder insbesondere fernab einer Realität, die auch mit Dingen wie Windelwechseln einhergeht) hervorzuheben? Und können wir Menschen und Kunstschaffende des Westens weiterhin in unserer Haltung des Besser-(gestellt)seins verharren, wenn es um Leben und (Kunst)Schaffen geht? Vielleicht ist es nun endlich an der Zeit Mütter in den Blick zu nehmen und dem was hinter diesem Wort steht gerecht zu werden. Menschen, die über ihre Unterschiede hinweg viel verbindet und die hungrig sind, sich (endlich) hierüber auszutauschen und zu Sichtbarkeit zu gelangen.
Wissen fusst auf Hinwendung oder geht zumindest mit ihr einher. Ist hiermit oft die Hinwendung auf Belange des Kopfes gemeint, so geht es im Folgenden um jenes Wissen, das in, durch und mit dem Körper entsteht. Wissen in Form von Menschen, ihren Praktiken und Werken (den Begriff weit gedacht).
Am Anfang des Laboratoriums stand das Vorhaben den internationalen Aspekt des Themas Elternschaft in den Künsten (und im Speziellen im Bereich Tanz) zu erforschen. Was ist da? Was gibt es? Was fehlt? Und damit: Wer ist da und wen gibt es und wer fehlt? Ziemlich rasch wurde klar, dass dieses Lab, ein Austausch über Ländergrenzen hinweg, in gewisser Weise funktionieren kann, wenn man sich von den großen Themen wie Gesellschaft, Machtstrukturen, politische Systeme, Feminismus nicht einschüchtern lässt. Wenn man Diversität in den Grenzen eines fünfstündigen Zoom-Meetings (mit Zeitunterschieden) in einer Begrenztheit ermöglicht ohne sich frustrieren zu lassen. Indem man mit Fragen beginnt und von vornherein im Kopf hat, dass man auch mit Fragen enden wird. Wenn man nicht aus den Augen verliert, dass es beim Hinwenden immer auch um Zuhören und Gehörtwerden geht. Wenn man einsteigt mit dem Willen zur Augenhöhe und diesen Willen als Kraft/ Antrieb sieht und nicht als etwas Forcierendes. Wenn man Raum für „Ich habe keine Ahnung.“ gibt.
Als Mutter ist man in Dingen der Offenheit und Zugewandtheit geschult. Das gilt übrigens länderübergreifend. Also los.
Innerhalb der Vorbereitungen zum Lab wurde recht schnell klar, dass die Auswahl der Teilnehmenden mit dem Aufbau eng verwoben ist. So sind diese zwei Elemente parallel entstanden und gewachsen. Durch persönliche Kontakte/ Begegnungen des eigenen Berufslebens, Anfragen an Freunde mit Bitte um Vorschläge, einem facebook-Aufruf und Recherchen zu Institutionen, die sich dem Thema Elternschaft widmen entstand eine Runde von 10 Gästen und 5 AG-Mitgliedern. Die Gäste kamen aus/ arbeiten in Indien, Kanada, Polen, Chile, England, Singapur, Schweden, Österreich. Bis auf eine Person handelte es sich um Menschen, die im Bereich des Tanzes tätig sind. Bei allen handelte es sich um Frauen und zwar um jene Frauen, die Kinder ausgetragen haben. Unter diesen Frauen und Müttern waren unter anderem solche, die künstlerisch zum Thema Mutterschaft gearbeitet haben und auch solche, die Institutionen oder wissenschaftliche Recherchen rund um das Mutterschaft gegründet/ angegangen haben. Die sich hierüber ergebende Diversität hinsichtlich Nationalität, kultureller und gesellschaftlicher Hintergründe und Arbeitsschwerpunkte folgte dem Wunsch/ Vorhaben, einen kleinen Einblick in das Thema auf internationaler Ebene zu bekommen und Begegnungen zu schaffen, die sich durch zahlreiche Barrieren normalerweise nicht so einfach ergeben. Den Frauen sollte Raum gegeben zu werden, durch Erlebnisse der anderen nicht nur ihr Wissen zu erweitern, sondern auch von anderen gehört und wahrgenommen zu werden.
Im ersten Teil des Labs wurden alle Teilnehmenden gebeten, die anderen mit auf eine Reise durch ihren Tag zu nehmen. Es gab weiterhin keine Vorgaben, worauf im Tagesablauf der Fokus gelegt werden sollte. Nach diesem Zusammenkommen als gesamte Gruppe schloß sich ein Teil an, in welchem diejenigen gebeten wurden zu reden, die „Institutionen“ repräsentieren. Jene also, die in Strukturen, durch Angebote (wie Residenzen und Weiterbildungsprogramme) oder politische Arbeit (mittels Datenerhebungen) das Thema Mutterschaft/ Kunst und Kind verhandeln. In einem dritten Teil wurden künstlerische Praktiken in den Blick genommen (die sich aus und mit Schwangerschaft/ Mutterschaft und der Lebensrealität einer Mutter entwickelt haben). Der vierte und letzte Teil sollte eine Öffnung in die Zukunft darstellen. Es wurde eine Art Feedback-Session gemacht, in welcher lediglich Fragen gestellt werden durften. Unter den Fragen stellt „Can we create a tribe?“ wohl am ehesten dar, was dieses Lab gewesen sein könnte. Ein Anfangspunkt, ein erstes schüchternes Versuchen und Üben im Vernetzen und Miteinander sein. Was kommt jetzt? Workshops? Mentorings? Künstlerische Projekte? Ein Pool an Wissen und Unterstützung? Unterstützung, die dort beginnt, wo man das Wissen um die gegenseitige Existenz teilt?
Raisa Kröger
Eingeladene Künstlerinnen:
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- Susie Burpee (Canada)
- Kimberley de Jong (Canada)
- Julie Lebel (Canada)
- Ana Maria Hedman (Sweden)
- Renata Piotrowska-Affret (Polen)
- Macarena Campbell (Chile)
- Krõõt Juurak (Austria)
- Aranyani Bhargav (India)
- Faye Lim (Singapore)
- Lucy McCrudden (England)
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Beteiligte Künstlerinnen der Ag Elternschaft und Tanz:
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- Jenny Haack
- Jasna Layes Vinovrški
- Anja Kolmanics
- Raisa Kröger
- Heike Kuhlmann
- Saskia Oidtmann
- Steffi Sembdner-Erfurt
- Maira Walser
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